Zahntraumata, Kieferfrakturen und ihre Behandlung
(Die nun folgenden Darstellungen erheben - dies sei
ausdrücklich betont - keinen wie auch immer gearteten Anspruch auf
Vollständigkeit!)
Unfälle mit kleineren Verletzungen im Kiefer- und
Gesichtsbereich, bei denen keine Beeinträchtigungen der
Vitalfunktionen befürchtet werden müssen (z. B. Verlegung der
oberen Luftwege), können in vielen Fällen ambulant behandelt
werden. Oftmals liegen kombinierte Hartgewebs- und
Weichteilverletzungen vor - für die Versorgung gilt dabei der
Grundsatz: Von innen nach außen! Leider muß immer wieder
festgestellt werden, daß von diesem Grundsatz abgewichen wird -
die Weichgewebswunde, z. B. die Lippenverletzung wird genäht und
dabei die Zahnfraktur oder gar Kieferfraktur übersehen.
Frakturen der Kieferknochen:
Häufige Folge einer Schlägerei ist die Fraktur der knöchernen Spange des Unterkiefers.
Typischerweise bricht hierbei der Unterkiefer zweimal - unmittelbar am
Angriffspunkt der Gewalt und in einer gedachten Verlängerung der
Gewaltrichtung gegenüber ein zweites Mal, oft auch als Fraktur des
Kiefergelenkköpfchens.
Unsichere Frakturzeichen sind Schmerzen und Schwellung, auch lockere Zähne.
Sichere Frakturzeichen
hingegen sind für den Laien, sofern er diese eindeutig erkennen
kann, sowie für den Arzt bei der klinischen Untersuchung
Dislokation, Krepitation und abnorme Beweglichkeit, so, wie bei anderen
Knochen des Körpers auch, also eine unnatürliche Stellung der
Knochen, Knirschen beim Reiben der Knochenenden aneinander (sehr
schmerzhaft).
Für die Kieferknochen ergibt sich daraus folgernd als sichere
Frakturzeichen ein "Absatz" in der Zahnreihe, die Unmöglichkeit,
die Zahnreihen normal aufeinander zu bringen und/ oder die
Beweglichkeit einer Zahngruppe. Ist eines dieser Zeichen vorhanden,
muß unverzüglich ein Kieferchirurg aufgesucht werden. (Es
muß hierbei nicht explizit erwähnt werden, daß weitere
Diagnostik, insbesondere Röntgendiagnostik, unerläßlich
ist.)
Handelt es sich um eine isolierte
Unterkieferfraktur, kann bei vollständiger Bezahnung der
Unterkiefer nach Reposition der Fraktur gegen den Oberkiefer geschient
werden - dazu müssen an die Zahnreihen beider Kiefer Schienen
angelegt und mit Drahtschlaufen verschnürt werden,
anschließend kann die untere Schiene mit straffen Gummiringen an
der oberen Schiene fixiert werden.
Vier Wochen lang ist die Ernährung dann nur flüssig über
ein Trinkröhrchen möglich, welches an der Innenseite der
Wange hinter dem letzten Zahn Richtung Rachen geführt wird.
Gebürstet werden können in dieser Zeit nur die
Außenflächen der Zähne, die übrige Reinigung
muß chemisch mit Chlorhexidin- Spüllösung erfolgen.
Da diese Vorgehensweise für den Patienten sehr belastend ist, wird
man sich heute auch bei vollständiger Bezahnung eher für eine
Operation entscheiden - für die Plattenosteosynthese, bei der die
Knochenfragmente mittels Titanplatten und Schrauben gegeneinander
fixiert werden, welche allerdings in einem zweiten Eingriff nach
Heilung der Frakturen wieder entfernt werden müssen.
Beim zahnlosen Kiefer und bei Trümmerfrakturen ist dieses Vorgehen ohnehin alternativlos.
Da im Unterkiefer der Nervus alveolaris inferior verläuft, der die
Unterlippe sensibel innerviert, besteht bei jeder Unterkieferfraktur
auch immer die Gefahr der Verletzung dieses Nerven mit der Folge des
Verlustes der Sensibilität der Unterlippe.
Zu erwähnen ist unbedingt, daß sich im Bruchspalt
befindliche Zähne entfernt werden müssen, da ihr Belassen zur
Knochenentzündung (Bruchspaltosteomyelitis) führen
kann.
Isolierte Oberkieferfrakturen entstehen
zumeist durch einen Schlag auf das Auge. Nahm man früher an, das
Auge würde, da mit Flüssigkeit gefüllt, in der
Augenhöhle nicht ausweichen können und somit den Boden der
Augenhöhle, der zugleich das Dach der Kieferhöhle ist,
eindrücken, so weiß man heute, daß dies durch
unmittelbare Gewalteinwirkung auf die dünne Knochenlamelle
geschieht, die "zusammengeschoben" wird (Blow- out- Fraktur).
Durch Verschiebung des Auges sind Doppelbilder beim Gewaltopfer die
Folge, welche im allgemeinen zur raschen Diagnostik und Therapie
führen werden.
Ist der Knochenteil des Oberkiefers, welcher die Frontzähne trägt (Os incisivum)
sehr prominent, so kann dieser durch einen Sturz isoliert brechen. Die
Frontzahnreihe ist dann als Gruppe gemeinsam beweglich. Sehr oft sind
dabei auch die Frontzähne beschädigt, was die
Alveolarfortsatzfraktur zunächst verschleiern kann.
Oberstes Ziel einer solchen Alveolarfortsatzfraktur ist
die Erhaltung des Alveolarfortsatzes, des Kieferknochens, auch dann,
wenn er zahnlos sein sollte oder die Zähne aufgrund vorbestehenden
Befestigungsverlustes nicht mehr erhalten werden können. Die dazu
notwendige Diagnostik und Therapie können ambulant erfolgen.
Mittels einer Kunststoffplatte, die nach Abformung individuell
angefertigt wird, erfolgt die Fixierung des abgetrennten
Knochenfragmentes. Da dessen Ernährung bis zum Verheilen des
Bruchspaltes nur noch durch die angeheftete Mundhöhlenschleimhaut
gewährleistet wird, ist deren Schonung und dem unbedingten
Vermeiden ihres Abreißens oberste Priorität beizumessen.
Zahnverletzungen:
Werden Frakturen der Kieferknochen zumeist kieferchirurgisch
behandelt, sei es ambulant oder stationär, so werden Patienten mit
Zahnverletzungen meistens in der ambulanten Zahnarztpraxis vorstellig.
Wie schon erwähnt, ist es in diesem Fall für den Zahnarzt
sehr wichtig, eine möglicherweise unauffällige Fraktur der
Kieferknochen nicht zu übersehen; erst nach deren Ausschluß
kann mit der Behandlung der verletzten Zähne begonnen werden.
Luxierte Zähne:
Ob Zähne in der Alveole durch Gewalteinwirkung gelockert oder ganz
aus ihr herausgeschlagen wurden, immer reißen die die Zähne
versorgenden Blutgefäße, die Kapillaren ab, oder werden in
ihrer Funktion zumindest eingeschränkt.
Hat ein einwurzeliger Zahn im Jugendalter bis zu 8 Kapillaren, die ihn
mit Blut versorgen, so reduziert sich diese Zahl durch
Hartsubstanzeinlagerung im Laufe des Lebens auf zwei Kapillaren. Daraus
wird ersichtlich, daß die Möglichkeiten einer Vitalerhaltung
des verletzten Zahnes im Jugendalter besser sind, als im höheren
Erwachsenenalter.
Eine Vitalerhaltung
eines vollständig herausgeschlagenen Zahnes, beispielsweise nach
Sturz auf einen Fahrradlenker, ist nur bei noch nicht abgeschlossenem
Wurzelwachstum möglich: Der replantierte Zahn kann wieder
einheilen, und günstigenfalls kann sogar das Wurzelwachstum
fortgesetzt werden, da die Zellen an der noch wachsenden Wurzel sehr
regenerationsfreudig sind und nach Replantation durch das noch
große Loch an der wachsenden Wurzel auch zunächst ohne
Blutgefäßanschluß durch Diffusion der Nährstoffe
versorgt werden. (In
der Mehrzahl dieser Fälle aber endet selbst bei einer
Vitalerhaltung das Wurzelwachstum, und die Wurzel erscheint auch Jahre
später im Röntgenbild verkürzt.)
Frühzeitige Replantation (Wiedereinsetzen in die leere Alveole) und Schienung sind hierzu notwendig.
Für die Aufbewahrung vollständig luxierter Zähne
bis zum Behandlungsbeginn gilt: Am besten hierzu eignet sich eine
Zahnrettungsbox, gefüllt mit 0,9%iger Kochsalzlösung. Ist
eine solche nicht zur Hand, kann der luxierte Zahn auch in kalte Milch
gelegt werden. Von der Aufbewahrung in der Mundhöhle sollte trotz
günstigen Milieus abgesehen werden, da die erhebliche Gefahr des
Verschluckens oder Aspirierens besteht, außerdem kann durch
Daraufbeißen die Wurzeloberfläche beschädigt werden.
Ist eine alsbaldige Behandlung nicht möglich, kann auch der Laie
den Zahn in die leere Alveole zurücksetzen, was aber ohne
Anästhesie mit erheblichen Schmerzen einhergeht; außerdem
kann eine abgebrochene, sich noch in der Alveole befindliche
Wurzelspitze übersehen werden.
Luxierte Milchzähne dürfen weder vom Laien noch vom Zahnarzt in die Alveole zurückgesetzt werden!
Ist ein Milchzahn nach dem Sturz eines Kindes scheinbar verschwunden,
so kann er auch in den Kieferknochen gedrückt worden sein; ein
Röntgenbild verschafft darüber Klarheit. In einem solchen
Fall sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich; der Milchzahn
wird erneut durchbrechen und sich in der Zahnreihe wieder einstellen.
Nach einem Sturz nur gelockerte Milchzähne
können entweder vital bleiben (z. B. bei nur geringfügiger
Gewalteinwirkung) oder avital werden, wenn die Blutgefäße,
die den Zahn versorgen, abreißen. In letzterem Fall verfärbt
sich der Zahn im weiteren Verlauf entweder grau oder braun. Die Graufärbung
weist auf den Zerfall der Pulpa hin (des Zahnmarkes), nach einiger Zeit
kommt es zu Schmerzen und eitriger Schwellung um den Milchzahn herum.
Die Braunfärbung
hingegen zeigt die Einlagerung von Hartsubstanz im Zahninneren an und
geht selten mit Folgebeschwerden einher - in diesem Fall kann der
Milchzahn ohne weitere Behandlung bis zu seinem natürlichen
Verlust in Funktion bleiben.
Um luxierte bleibende Zähne dauerhaft zu erhalten, muß sich
nach ggf. Replantation und Schienung eine endodontische Behandlung
anschließen (Wurzelkanalbehandlung) (siehe Beitrag 6/2012).
Selbst bei nur geringfügiger Gewalteinwirkung ohne die
Notwendigkeit einer Schienung und zunächst positivem
Vitalitätstest wird es in sehr vielen Fällen nötig sein,
eine Wurzelkanalbehandlung durchzuführen, mitunter auch noch
Jahrzehnte nach dem Ereignis, welches bis dahin meistens
vollständig vergessen wurde!
Frakturierte Zähne:
Häufiger noch als die Luxation tritt die Zahnfraktur in
verschiedenen Schweregraden nach Gewalteinwirkung ein: Die Krone des
Zahnes verliert einen Teil der Hartsubstanz, entweder mit oder ohne
Eröffnung der Pulpahöhle. Bei kleineren Zahnschmelzfrakturen
und Absplitterungen genügt es mitunter, wenn sie verschliffen
werden; von einer Füllung sollte, wenn möglich, abgesehen
werden, weil die Präparation weiteren Substanzverlust erfordert,
welcher zusammen mit dem unfallbedingten Substanzverlust additiv wirkt
und zum Absterben der Pulpa führen kann. (Auch hierbei gilt,
daß noch Jahrzehnte nach dem Ereignis sich eine
Wurzelfüllung erforderlich machen kann.)
Ist die Pulpa eröffnet,
muß die Wurzelfüllung sofort erfolgen, möglichst im
Vitalverfahren, um eine unnötige Infektion des Wurzelkanals zu
vermeiden; der Wiederaufbau erfolgt in weiteren Schritten mittels
Aufbaufüllung oder Überkronung.
Je tiefer die Krone abgebrochen ist, umso schwieriger gestaltet sich die prothetische Rekonstruktion.
Eine intraalveoläre Fraktur des Zahnes im unteren Wurzeldrittel kann mit Wurzelfüllung in Kombination mit einer Wurzelspitzenresektion therapiert werden.
Ist aber die Zahnwurzel intraalveolär in ihrem mittleren Teil frakturiert, so besteht meistens keine Erhaltungsmöglichkeit für den Zahn.
(Vereinzelt wurden Versuche unternommen, bei Jugendlichen mit diesen
Verletzungen den Zahn mittels Kompressionsschienung zu erhalten - von
Behandlungserfolgen dieser Art liest man zuweilen in Fachzeitschriften
als Kasuistiken (Einzelfallbeschreibungen).)